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  • Geschützt: Dienstag

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  • Ein Bild von uns

    Kurzgeschichte.

    Ich bin nicht schwindelfrei, jammert B beim Aufstieg über die schmale Feuertreppe, weil sie dauernd jammert, so, als wäre das witzig. Oder so, als wäre das Jammern ihr Platz, den sie ausfüllt. Ausfüllen muss. Scheiß dich nicht an, lacht A und steigt immer weiter hinauf, und C sagt gar nichts dazu, weil sie schon längst oben angekommen ist und die Lage checkt. Und die Lage ist leer. Es ist das wohl unspektakulärste Flachdach, das eine mittelgroße Stadt jemals gesehen hat. Kein Regisseur mit halbwegs Verstand im Kopf würde es als Schauplatz für eine noch so unbedeutende Szene aussuchen, wobei natürlich keine Szene unbedeutend ist und selbst in ihrer Unbedeutsamkeit unglaublich bedeutend wäre. Wie wir alle wissen. Die Betoneinfassung, der mit Kies bedeckte Boden und selbst die Aussicht sind langweilig. Der Blick reicht von hier am besten hinauf, in den blauen und von zarten, geisterhaften Weißwoken durchzogenen Himmel, denn unten und rundherum warten nur industrierauchende Rauchfänge, sterile Gewerbehöfe und mit Autos vollgeparkte Unternehmensparkplätze. Hier kräht kein Hahn, und selbst den trägen Tauben, die sich rundum tummeln, scheint die Langeweile aus ihren winzigen Ohrlöchern zu triefen, so müde gurrend staksen sie über die öden Gegebenheiten.

    Ich hab was zu trinken mit, sagt A und holt eine Rotweinflasche mit logischem Schraubverschluss aus ihrem Rucksack. Uh, ich trinke um die Zeit nichts, schüttelt B den Kopf, und C sagt zu A, hättest du auch Kinder wie wir, würdest du das auch nicht, woraufhin A sich denkt, ach halt doch deine besserwisserische Fresse und laut sagt: Da hast du wohl recht.

    A öffnet die Flasche dann halt nur für sich, und C breitet eine übergroße Decke aus, und B holt aus ihrer Tasche einen Nudelsalat und Pappgeschirr und Holzbesteck. Und eine Thermoskanne mit Kaffee. Allerdings kann ich was zum Rauchen anbieten, feixt C jetzt und die zwei anderen klatschen in die Hände und machen proletoide Jubelgeräusche, und A kann es sich nicht verbeißen, zu fragen, ob Gras denn besser wäre als Alk, aber als Antwort erhält sie von C ohnehin nur ein Schulterzucken und von B einen Teller mit Nudelsalat, denn sie kümmert sich immer gut um alle.

    Los geht es mit dem Weißtdunoch und Wisstihrnoch und Könntihreuchnocherinnernals, Herrgott. Und an den Wolken zieht der Himmel vorbei und nimmt den Tag mit sich. Zum Glück hast du die Decke mitgebracht, sagt A, sonst wäre mein Hintern schon durchlöchert von den Kieselsteinen. Und C sagt, kein Problem, und Weißtdunoch und Wisstihrnoch und Könntihreuchnocherinnernals. Irgendwann früher schon mal sind wir auch auf so einem Dach gelegen, aber in einer besseren Stadt, sagt C, und die zwei anderen seufzen wissend und erinnern sich an die Fotosession dort mit der Lomo, die C zu jener Zeit ganz neu erstanden hatte. Sie waren jung gewesen, langhaarig und unfrisiert und gekleidet in Flohmarkt. Und sie hatten von Wüstenvideos britischer Bands mit Hang zu Suizid und Selbstverletzung geschwärmt – denn bitte, wer nicht? Sie waren inmitten ihrer Ausbildungen gestanden und gelegen, die Herzen weit offen trotz aller Verwundungen, und klaffende Risse hatten bereits die ersten Spuren in der Vita hinterlassen und in der Haut. Es war unsicher gewesen und schön, schmerzvoll und frei und grenzenlos, genau so, wie sie es kreiert hatten. Oder?

    Nun liegen A, B, C am Flachdach ihrer Potentiale, und recken ihre nicht mehr ganz so flachen Bäuche unter lockerem Leinen und stilvollem Satin dem kaltwarmen Licht entgegen, das jeden Altersfleck am Handrücken aufdeckt und seine Scheinwerfer liebevoll ausrichtet auf die Falten am und im Hirn. Auch gut. Wie faszinierend jedoch, in der Rückschau, wie selbstverständlich es doch schließlich wird, zu leben. Und wie schnell die großen Taten und brennenden Wünsche der kindlichen Achtziger und jugendlichen Neunziger all dem gewichen sind, das offenkundig offen ist und ansteht, jeden Tag, immer was zu tun. Nachts wird geschlafen und vielleicht ein kleines bisschen Sehnsucht gehabt nach Dingen, die es gar nicht gibt. Verdammte Kindheit, verdammte Jugend, verdammtes Dawson’s Creek und verdammte Roseanne, verdammtes MTV und gottverdammte Grungeplakate dünnblättriger und schreiendbunter Heftchen, deren damalige Verlage sich bis heute längst bankrott getippt haben. Und Weißtdunoch und Wisstihrnoch und Könntihreuchnocherinnernals. Wie viel Rebellion steckt in low carb, da fragt man sich ja ehrlich, wenn nur die Zeit bliebe. Denn irgendwann am Weg zwischen Jungsein und Sichimmernochjungglauben hat sie sich mit eingezogenem Kopf aus dem Staub gemacht, die Zeit. Und die Lederjacke im countrystylishen Ikea-Kasten – hübsch aufgehängt neben diversen Marken und Stoffen und Rechnungen von der Reinigung (der Reinigung! der Reinigung? ernsthaft?) – also, die Lederjacke ist ein Massenfabrikat, auf das man sich nicht mal RIOT draufzuschreiben getrauen würde, wenn man den passenden Textilstift dafür nicht sowieso schon längst somewhere over the rainbow in den Kinderbastelsachen verschustert hätte. Darlene würde kotzen, und zwar gleich hier vom Dach runter.

    Und apropos.

    Denn: Mir ist ur schlecht, sagt B jetzt. C streckt sich parallel dazu genüsslich auf der Decke aus, das Gesicht hinauf zur Sonne, einen Arm schützend über die geschlossenen Augen gelegt. Das tut mir leid, sagt sie, ich fühl mich wohl. Vielleicht verträgst du es einfach nicht? Es ist versprochen kein Scheiß, es ist von meinem Nachbarn, und der ist ein Guter. Kann ich noch einmal anziehen, fragt A jetzt, kniet sich neben B. Nimmt ihr den Joint ab und einen Zug. Und gibt ihn dann gleich an C weiter und steht auf und geht langsam bis zum Rand des Flachdachs und schaut hinunter und schaut hinter sich, zu ihren jahrzehntelangen Freundinnen, und dann wieder hinunter.

    Tu es nicht, ruft B in gespielt melodramatischem Tonfall, und alle lachen, vor allem A, denn die ist betrunken und stoned. Die anderen sind einfach nur satt und stoned. A ist niemals satt. Wenn sie auch Kinder hätte, wie die anderen, wäre sie das vielleicht.

    Eventuell auch nicht.

    Erst als sie springt, merkt sie, dass sie kurz eingenickt war. Denn erst als sie springt, wacht sie auf, mit einem Ruck. Mit einem rasenden Herzen und dabei einen einzigen erschrockenen Pfeiflaut ausatmend. Und sieht erleichtert, dass sie immer noch auf der Decke liegt, die sie sich mit zwei Frauen und einer Schüssel Essen teilt. Das ist das Leben, jetzt. Ein ganzes Stück abgeflacht, hochgelagert, langweilig und gealtert, ja. Gereinigt, gebügelt, verbastelt. Aber doch ist es das Jetzt. Und viel zu schade, um davon abzuspringen. Oder?

    Und weißtdunoch und Wisstihrnoch und Könntihreuchnocherinnernals. Und wollen wir ein paar Fotos von uns machen, fragt A jetzt, wenn auch nur fad mit dem Handy? Fad ist nicht nötig, sagt C, setzt sich fröhlich auf und zieht ihre alte Lomo aus dem Rucksack. Jö, sagt B, und A setzt sich zwischen B und C. Und C mit ihrem laaangen filigranen Arm hält die Kamera so weit weg von ihnen wie nur möglich. Und schießt dann ein Bild von uns für die Ewigkeit. Oder zumindest für die nächste Dekade. Oder zumindest für heute.

    Wer weiß das schon.

    © Althea Müller, 2021/22

  • Geschützt: Dillo

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  • Joey went home

    So um 2013 ließ mich der Titel eines alten Songs der österreichischen Punkband Psy-9 nicht los. Ich fand die Gruppe cool, ich fand das Lied cool und ich weiß bis heute überhaupt nicht, worum es darin eigentlich geht. Aber ich habe mit dem Titel „Joey went home“ in – soweit ich mich noch erinnern kann – inspirierter Windeseile und purer Leichtigkeit eine Kurzgeschichte erschaffen, die mich selbst und selbst heute noch traurig macht. Die Story wurde 2014 sogar in Buchform veröffentlicht, konkret in der 17er-Edition vom engagierten Verlagshaus Hernals. Bei der Präsentation des Buches in Wien war ich nicht persönlich anwesend, weil ich zu der Zeit gerade in einer WG in Los Angeles lebte – mit einer Handvoll verrückter Menschen sowie mit einem ganzen Haufen meiner eigenen Dämonen. Du meine Güte.

    Joey went home

    Josef ging raus, aus dem Keller auf die Bühne und zurück. Die Nacht war ein einziger riesengroßer Spaß gewesen, wie Farbballons, die man an Wände warf, um sie platzen zu lassen, und es waren alle da gewesen, und sie hatten Wodka aus der Flasche getrunken, schwer ersparte Lines gezogen und die Füße auf den Tisch gelegt. Jetzt lag er mit dem Gesicht nach oben, Richtung Sonne, die Augen geschlossen, und der Tag war zu jung, um jetzt schon aufzustehen, weiterzumachen mit dem unweigerlichen Alltag, der einer Nacht wie der letzten folgte, egal, wie gut man sich auch verstecken mochte. Josef war ein Mensch mit Prinzipien, und eins davon war, sich nicht unnötig fertig zu machen, weil das für gewöhnlich andere schon mehr als ausreichend betrieben, und was schadete es schon, noch ein wenig hier zu bleiben, ein wenig liegen zu bleiben, ganz mit sich, ganz mit der Stadt, die er so sehr liebte, dass er sie niemals gegen eine andere eintauschen würde.

    Unter anderem war auch Walter da gewesen, der hobbymäßig Meerschweinchen züchtete und auf seinem Dachboden ein Schloss für seine Fantasysoldaten gebaut hatte, mit einer bunten Lichterkette darüber, die aus dem Dachboden einen schaurig schönen Schauplatz abgegriffener Kinderträume machte, wann immer man den Stromschalter betätigte. So ein netter Mensch. Er hatte zu Josef gesagt, feiere, weil morgen kann schon alles vorbei sein, und das hatten sie dann auch gemacht, sie alle. Eine Fliege setzte sich auf Josefs Stirn und er vertrieb sie mit einer faulen Handbewegung, weil sie ihn kitzelte und seine Haut empfindlich war, wie Seidenpapier oder sogar noch empfindlicher. Alles tat weh. Unter der hellen Schicht, die die Gebeine und Gedärme und Flüssigkeiten umschloss und in Summe die Figur Josef ergaben, unter dieser Schicht, unter all dieser Haut, da pulsierte das Leben, die Liebe, da waren die vielen Küsse von gestern Nacht, und die Lieder. Sie hatten so gute Lieder gehört, die ganze Zeit, Musik war es, was sie verband, Musik und Wodka und die Freude, die reine pure Freude, trotz allem lebendig zu sein. Die Fliege kam zurück, summend, setzte sich aufs linke Ohr, und Josef machte sich nicht mehr die Mühe, sie zu verjagen, denn Schrecken setzte ein, ganz zärtlich, ganz vorsichtig, breitete sich in seinen Adern aus wie Eisblumen, wunderbar schöne Eisblumen, die Josef an Weihnachten erinnerten, und wie gern er doch dieses Fest gehabt hatte, früher, als er kaum noch hatte stehen können, ohne gleich wieder hinzuplumpsen. Nicht, weil er da betrunken gewesen war, nein, einfach noch klein war er da gewesen. Ein Päckchen vom Weihnachtsmann, direkt in ihn hinein gelegt. Und eine Gabe von der Weihnachtsfrau, direkt über den Tisch gelegt, die perfekte Linie.

    Aufsetzen, durchatmen, Luft kriegen, Augen öffnen. Das wollte Josef nun unbedingt, ganz unbedingt und sofort wollte er das, und er versuchte alles und schaffte nichts davon. Die Sonne brannte nun auf ihn herab, er spürte sie, er nahm ihr grelles Licht durch die geschlossenen Lider wahr. Es tat weh, hier zu liegen. Härte bohrte sich von unten in seinen Rücken, er bewegte die Arme, die Hände, das funktionierte gut, aber weiter, was weiter? Er war reglos, nur die Arme und Hände bewegten sich in Halbkreisen unter und über ihm, unsinnig und ohne Ziel und Zweck. Verzweiflung. Und die beschissene Fliege blieb einfach sitzen, wo sie war, störte und beleidigte ihn als Menschen, der doch so viele Entwicklungsstufen über ihr stehen sollte und jetzt hilflos war. Ihr ausgeliefert. Winzigkleine dünne Beinchen, die über seine Haut spazieren und nach etwas suchen, das Fliegen auf Menschen suchen. Winzigkleine dünne Beinchen, die jetzt alle Macht seiner Welt hatten.

    Josef liebte das Leben. Die Nacht war lustig gewesen. Und jetzt wollte er aufstehen und nach Hause gehen. In seinem Kopf klappte der alte Mann am Musikpult die Geräte zu, rauchte die letzte Zigarette, packte seine sieben Sachen zusammen. Schon aus, für heute? Schon Sperrstunde, für heute? Was war da noch in seinem Kopf? Schmerzen.

    Unsägliche Schmerzen. Die Eisblumen hatten Triebe bekommen, sich vom Rumpf ins Haupt vorgearbeitet. Giftige Stränge kalten Grüns schlangen sich von innen um die Augenhöhlen, legten sich von innen an die Stirn, küssten Josef von innen her, taten weh. Irgendetwas war wirklich schief gegangen. Anscheinend.

    Die Fliege flog davon und Josef war so dankbar und erleichtert, fast hätte er weinen mögen, doch die Frage war – hätte er es gekonnt? Nun, in diesem Moment, konnte er ja noch nicht mal die Augen öffnen geschweige denn den Mund. Hätten sich seine Tränendrüsen denn überhaupt öffnen lassen? Genervt, ich bin genervt, das ist nicht gut, sagte sich Josef, ohne die Stimme zu gebrauchen, die er nicht gebrauchen hätte können, und lag weiter einfach da, fühlte, wie die Sonne seine Haut immer weiter und weiter verbrannte, während er an Su dachte. Süße, süße Su. Sein Mädchen, seine Frau, keine andere würde er jemals heiraten, nur sie. Wenn sie das wollte. Er würde sie eigentlich gerne sofort heiraten. Su war anders als alles auf der Erde, sie war hübscher. Und klüger. Sie hatte etwas im Griff, was er selbst überhaupt nicht im Griff hatte, und sie impfte ihm Lebensfreude ein, nicht nur zu Weihnachten, sondern fast jeden Tag, seit über drei Jahren. Sie war die schönste Frau der Welt und Josef war froh, dass sein Vater nicht mehr lebte, denn er hätte etwas so Wunderbares wie Su, das Fabelwesen, die Weltfrau, nicht jemandem vorstellen mögen wie seinem Vater, dem Bastard, dem Abschaum, dem Irren, der sich selbst das Hirn rausgeblasen hatte irgendwann, als gerade niemand daheim gewesen war. Daheim. Daheim, wo war das noch mal? Wie komme ich da hin?

    Wo war Su?

    Wo waren alle?

    Josef überlegte hastig, und die Schmerzen in seinem Körper wurden mehr und mehr, wurden stärker, und Josef überlegte noch hastiger, denn er wollte nicht ohnmächtig werden, bevor er zu Ende überlegt hatte, wobei er nicht sicher wusste, wo oder was genau Ende in dem Sinne bedeuten mochte. Ende, Michael Ende, ein Buch, da hatte es ein Buch gegeben, die unendliche Gesichte, ja leck mich am Arsch, warum erinnere ich mich gerade jetzt daran? Die kindliche Kaiserin, das Pferd im Sumpf und Atreyu, der kleine Krieger. Wo bin ich? Die Gedanken wurden wirr, Josef war das bewusst und es machte ihn trübsinnig, es machte ihm Angst. Es war nun genug mit Rumliegen, er wollte aufstehen, sich umsehen, sich einen Kaffee holen, oh ja, Kaffee. Hatte er noch Geld? War seine Geldbörse da, wo sie sein sollte, in der hinteren rechten Tasche seiner Jeans? Er wollte so gerne, so gerne! nachschauen, doch er konnte sich nicht bewegen, und so lag er weiterhin wie ein Käfer am Rücken in der mittlerweile unerträglichen Sonne. Röstete in der Wüste des berühmten Morgens danach an einem ihm unbekannten Ort.

    Er dachte an alles, das er lieb hatte, an seinen Kaktus in der Küche. An Su. An Walter. An die Lieder. An Weihnachten nicht, dafür aber an die gelbe Luftmatratze, die er zum siebten Geburtstag bekommen hatte von der Betreuerin im Heim, die er schon immer am liebsten gehabt hatte. Noch ein paar Jahre, dann würde er versuchen, sie wiederzufinden. Die Betreuerin, nicht die Luftmatratze. Und er würde sie zu seiner Hochzeit mit Su einladen und sie würde mit ihm am Buffet stehen, seinen Kragen richten, wie sie es immer getan hatte, damals, er klein gewesen war, und sagen: „Du hast dich gut gemacht, Josef, du hast dich wirklich gut gemacht!“ Er trieb jetzt fort, auf seiner gelben Luftmatratze. Es war schön, jung zu sein, unbeschwert zu sein, auszugehen und die Welt zu vergessen, aber nicht für immer, denn es war auch schön, in dieser Welt zu sein, sie anzuschauen und dabei zu entdecken, wie friedlich sie sein konnte, und wie in Ordnung. Seine Finger berührten jetzt das Wasser, hingen einige Zentimeter tief in den See, während der Körper beschützt und von der Sonne geleckt und gestreichelt wurde, sicher und in Ordnung auf der Luftmatratze treibend, an einem Sommertag, als er noch klein gewesen war und die Welt ein Dorf, das ihm nicht ausschließlich Angst machte. Aber Angst, was war schon Angst. Nichts konnte Josef etwas anhaben, solange er nur diese Liebe in sich trug, diese unbändige Liebe zu seinen Freunden, zu sich selbst, zu seinen Gebeinen, Gedärmen und Flüssigkeiten. Zu Su.

    Oh. Er war wohl kurz ohnmächtig gewesen. Wie gut. Wie schlecht. Denn nun war er wieder da, war sich seiner Situation bewusst, wurde geröstet und konnte weder schauen noch stehen. Er lag. Einfach nur da. Am Ufer des Sees stand seine Betreuerin, winkte ihm zu, komm raus, es wird Abend, wir fahren nach Hause.

    Nach Hause. Wo war das? Josef wollte eigentlich immer Joey heißen, seit er zwölf gewesen war, und manche nannten ihn tatsächlich so. Joey. Manche nannten ihn tatsächlich so und wussten nicht mal, dass er Josef hieß, im Prinzip. Prinzipien waren eine gute Sache, solange man ihnen nicht allzu treu blieb, solange man sie ab und zu mal auf die Waagschale legen und neu bewerten durfte. Eins der neuesten Prinzipien jetzt war zum Beispiel, dass heute kein guter Tag zum Sterben war. Denn: Sterben, wozu denn? Hier war es gut, das Drüben konnte warten. Noch einmal aufstehen und nach Hause gehen, noch einmal schlafen gehen, dicht angeschmiegt an den schlanken Rehrücken seiner Su, das war alles, an das Josef nun denken konnte. Er spürte ihr zierliches Ohr an seiner Wange, spitzte die Lippen so weit als möglich, um sie in die Ohrmuschel hinein zu küssen, ganz leise, um sie nicht zu wecken, ganz leicht, um sie nicht zu stören, er spürte ihre linke Hand in seiner linken Hand, und ineinander verschlossen lagen beide Hände auf der Hüfte der Frau, die er bald heiraten würde, kein Zweifel. Dann stieg er aus dem Wasser, die Betreuerin reichte ihm die Hand, wieder eine Hand mehr in seinem Leben, zog ihn ans Ufer, lachte, und die Luftmatratze, wo ist die? Ah, hier. Auslassen, zusammenrollen, im Bus verstauen, beim anderen Gepäck der anderen Kinder. Wenn du groß bist, sagt die Betreuerin, kannst du dir ein Haus am See bauen, ganz für dich allein, und dann kannst du immer, egal, wie früh oder spät es ist, zum Schwimmen gehen! Wäre das nicht fein?

    Ja, fein. Fein. Eine feine Sache. Wo bin ich? Die Schmerzen wurden leichter, der Körper wurde leichter, die Haut legte sich zusammen, rollte sich zusammen, war bereit, verstaut zu werden in dem Bus, der Josef heimbringen würde. Die Glieder entspannten sich, die Augen kämpften nicht mehr länger damit, sich öffnen zu dürfen. Es war ja alles gut, und das Brennen am ganzen Körper wurde weniger, wurde kühler, ein Krampf, in der Mitte des Magens, genau dort, wo ein See war, mit einem selbstgebauten Haus am Ufer, ein Krampf noch, Hölle! ja Scheiße! tat das weh, ja, das tat weh, und nochmals, Hölle. Hölle. Josef sprang ins Wasser, seine Muskeln spannten und entspannten sich in den glitzernden Wellen, kühles gutes sauberes Nass umspülte und umspielte ihn, er war jetzt groß, er brauchte keine Luftmatratze mehr, und immer weiter schwamm er hinaus, vergiftetes Fleisch und fleischiges Gift der gesamten Erde hinter sich lassend, wissend, dass er gewonnen hatte. Denn die Schmerzen ließen mit jeder Kraulbewegung seiner wieder gestärkten Arme nach, und hier im See gab es auch keine Fliegen, die ihn kitzelten und ärgerten, und die Sonne war nicht mehr bedrohlich und tödlich, nein, sie war gerade richtig. Ein wunderbarer früher Sommerabend. Da drüben, zwischen den Trauerweiden, halb verdeckt vom Schilf noch, da erkannte er Su, ihr süßes Gesicht mit den beiden Oliven, die ihre Augen waren, und mit dieser großartigen Liebe in ihrer Miene, die er so gern hatte und die er gleich überall und rundherum küssen würde, um sie willkommen zu heißen, gleich, nachdem er diesen See hinter sich gelassen hatte. Er konnte so gut schwimmen. Das Gift lässt nach. Glieder spannen und entspannen sich. Keine Krämpfe mehr. Keine Kämpfe

    „Tragisch“, sagt der Mann, der den leblosen Körper einpackt, nachdem er alle erforderlichen Eintragungen in seiner Mappe vorgenommen hat. Die Parkbank am Wiener Gürtel ist in einem Umkreis von hundert Metern abgeriegelt, die eine Polizistin und ihr Kollege sind noch da, aber die Presse hat sich zum Glück eh schon wieder geschlichen, und selbst der neugierigste Passant geht nun wieder seines Weges. Es ist schon fast mittags, Zeit zum Essen. Zeit, um sie mit der Familie zu verbringen. Gut, wenn die Leute weggehen, die Neugierdsnasen, die Geier, die blinden Passagiere.

    Doch im Prinzip ist das alles gar nicht tragisch. Im Prinzip ist es in Ordnung.

    Joey went home, an einem Sonntagvormittag im Sommer, auf einem öffentlichen Platz im Herzen von Wien, mitten in Österreich, hier in Europa, auf dieser Erde. Ein Stäubchen im Universum.

    Josef ist endlich daheim.

    © Althea Müller, 2013/2022

  • Der erste Beitrag

    Der erste Beitrag

    … eines neuen Blogs ist immer wie die erste Palatschinke. Sie muss sein, aber sie wird garantiert zu dünn – aufgrund übertriebener Vorsicht Schrägstrich Sparsamkeit – oder zu dick – aufgrund noch fehlender Konzentration Schrägstrich Lust. Undoder sie verbrennt sowieso ein wenig oder komplett, weil man grad tausend (oder auch nur zwei) Dinge nebenbei macht – und noch gar nicht so wirklich drin ist, im Palatschinkenmachen.

    Genau so ist es für mich auch immer mit dem ersten Beitrag eines neu erschaffenen Blogs.

    Natürlich ist die Freude riesig über das Geschenk, das ich mir selbst mit dieser Website gemacht habe. Und natürlich brennt es mir – nach all den obligaten Basiseinrichtungen und Menü und Einstellungen und Domainübertragung und bluhblahblih – unter den kurzen Fingernägeln, hier den ersten Beitrag, die erste Story, das erste rührend berührend aufrührerische Machwerk zu fabrizieren.

    Aber wisst ihr was?

    Nice try.

    Denn ja, dies ist der erste Beitrag für mein Schattentheater.

    Und yep. Er ist wie prognostiziert viel zu dünn, um anzudocken – und dabei gleichzeitig zu dick, um unsichtbar zu bleiben. Und außerdem ist er mir tatsächlich verbrannt, der Hund. Nein, nicht komplett. Aber ein wenig, ja.

    Ich gebe ihm darum nicht mal eine eigene Kategorie. Ich belasse ihn unter dem Allgemeinen. Alles und nichts und gemein noch dazu.

    Schwachsinn, einfach. Aber obligat. Einer muss der Erste sein.

    Und den Ersten, den fressen die Katzen.