So um 2013 ließ mich der Titel eines alten Songs der österreichischen Punkband Psy-9 nicht los. Ich fand die Gruppe cool, ich fand das Lied cool und ich weiß bis heute überhaupt nicht, worum es darin eigentlich geht. Aber ich habe mit dem Titel „Joey went home“ in – soweit ich mich noch erinnern kann – inspirierter Windeseile und purer Leichtigkeit eine Kurzgeschichte erschaffen, die mich selbst und selbst heute noch traurig macht. Die Story wurde 2014 sogar in Buchform veröffentlicht, konkret in der 17er-Edition vom engagierten Verlagshaus Hernals. Bei der Präsentation des Buches in Wien war ich nicht persönlich anwesend, weil ich zu der Zeit gerade in einer WG in Los Angeles lebte – mit einer Handvoll verrückter Menschen sowie mit einem ganzen Haufen meiner eigenen Dämonen. Du meine Güte.
Joey went home
Josef ging raus, aus dem Keller auf die Bühne und zurück. Die Nacht war ein einziger riesengroßer Spaß gewesen, wie Farbballons, die man an Wände warf, um sie platzen zu lassen, und es waren alle da gewesen, und sie hatten Wodka aus der Flasche getrunken, schwer ersparte Lines gezogen und die Füße auf den Tisch gelegt. Jetzt lag er mit dem Gesicht nach oben, Richtung Sonne, die Augen geschlossen, und der Tag war zu jung, um jetzt schon aufzustehen, weiterzumachen mit dem unweigerlichen Alltag, der einer Nacht wie der letzten folgte, egal, wie gut man sich auch verstecken mochte. Josef war ein Mensch mit Prinzipien, und eins davon war, sich nicht unnötig fertig zu machen, weil das für gewöhnlich andere schon mehr als ausreichend betrieben, und was schadete es schon, noch ein wenig hier zu bleiben, ein wenig liegen zu bleiben, ganz mit sich, ganz mit der Stadt, die er so sehr liebte, dass er sie niemals gegen eine andere eintauschen würde.
Unter anderem war auch Walter da gewesen, der hobbymäßig Meerschweinchen züchtete und auf seinem Dachboden ein Schloss für seine Fantasysoldaten gebaut hatte, mit einer bunten Lichterkette darüber, die aus dem Dachboden einen schaurig schönen Schauplatz abgegriffener Kinderträume machte, wann immer man den Stromschalter betätigte. So ein netter Mensch. Er hatte zu Josef gesagt, feiere, weil morgen kann schon alles vorbei sein, und das hatten sie dann auch gemacht, sie alle. Eine Fliege setzte sich auf Josefs Stirn und er vertrieb sie mit einer faulen Handbewegung, weil sie ihn kitzelte und seine Haut empfindlich war, wie Seidenpapier oder sogar noch empfindlicher. Alles tat weh. Unter der hellen Schicht, die die Gebeine und Gedärme und Flüssigkeiten umschloss und in Summe die Figur Josef ergaben, unter dieser Schicht, unter all dieser Haut, da pulsierte das Leben, die Liebe, da waren die vielen Küsse von gestern Nacht, und die Lieder. Sie hatten so gute Lieder gehört, die ganze Zeit, Musik war es, was sie verband, Musik und Wodka und die Freude, die reine pure Freude, trotz allem lebendig zu sein. Die Fliege kam zurück, summend, setzte sich aufs linke Ohr, und Josef machte sich nicht mehr die Mühe, sie zu verjagen, denn Schrecken setzte ein, ganz zärtlich, ganz vorsichtig, breitete sich in seinen Adern aus wie Eisblumen, wunderbar schöne Eisblumen, die Josef an Weihnachten erinnerten, und wie gern er doch dieses Fest gehabt hatte, früher, als er kaum noch hatte stehen können, ohne gleich wieder hinzuplumpsen. Nicht, weil er da betrunken gewesen war, nein, einfach noch klein war er da gewesen. Ein Päckchen vom Weihnachtsmann, direkt in ihn hinein gelegt. Und eine Gabe von der Weihnachtsfrau, direkt über den Tisch gelegt, die perfekte Linie.
Aufsetzen, durchatmen, Luft kriegen, Augen öffnen. Das wollte Josef nun unbedingt, ganz unbedingt und sofort wollte er das, und er versuchte alles und schaffte nichts davon. Die Sonne brannte nun auf ihn herab, er spürte sie, er nahm ihr grelles Licht durch die geschlossenen Lider wahr. Es tat weh, hier zu liegen. Härte bohrte sich von unten in seinen Rücken, er bewegte die Arme, die Hände, das funktionierte gut, aber weiter, was weiter? Er war reglos, nur die Arme und Hände bewegten sich in Halbkreisen unter und über ihm, unsinnig und ohne Ziel und Zweck. Verzweiflung. Und die beschissene Fliege blieb einfach sitzen, wo sie war, störte und beleidigte ihn als Menschen, der doch so viele Entwicklungsstufen über ihr stehen sollte und jetzt hilflos war. Ihr ausgeliefert. Winzigkleine dünne Beinchen, die über seine Haut spazieren und nach etwas suchen, das Fliegen auf Menschen suchen. Winzigkleine dünne Beinchen, die jetzt alle Macht seiner Welt hatten.
Josef liebte das Leben. Die Nacht war lustig gewesen. Und jetzt wollte er aufstehen und nach Hause gehen. In seinem Kopf klappte der alte Mann am Musikpult die Geräte zu, rauchte die letzte Zigarette, packte seine sieben Sachen zusammen. Schon aus, für heute? Schon Sperrstunde, für heute? Was war da noch in seinem Kopf? Schmerzen.
Unsägliche Schmerzen. Die Eisblumen hatten Triebe bekommen, sich vom Rumpf ins Haupt vorgearbeitet. Giftige Stränge kalten Grüns schlangen sich von innen um die Augenhöhlen, legten sich von innen an die Stirn, küssten Josef von innen her, taten weh. Irgendetwas war wirklich schief gegangen. Anscheinend.
Die Fliege flog davon und Josef war so dankbar und erleichtert, fast hätte er weinen mögen, doch die Frage war – hätte er es gekonnt? Nun, in diesem Moment, konnte er ja noch nicht mal die Augen öffnen geschweige denn den Mund. Hätten sich seine Tränendrüsen denn überhaupt öffnen lassen? Genervt, ich bin genervt, das ist nicht gut, sagte sich Josef, ohne die Stimme zu gebrauchen, die er nicht gebrauchen hätte können, und lag weiter einfach da, fühlte, wie die Sonne seine Haut immer weiter und weiter verbrannte, während er an Su dachte. Süße, süße Su. Sein Mädchen, seine Frau, keine andere würde er jemals heiraten, nur sie. Wenn sie das wollte. Er würde sie eigentlich gerne sofort heiraten. Su war anders als alles auf der Erde, sie war hübscher. Und klüger. Sie hatte etwas im Griff, was er selbst überhaupt nicht im Griff hatte, und sie impfte ihm Lebensfreude ein, nicht nur zu Weihnachten, sondern fast jeden Tag, seit über drei Jahren. Sie war die schönste Frau der Welt und Josef war froh, dass sein Vater nicht mehr lebte, denn er hätte etwas so Wunderbares wie Su, das Fabelwesen, die Weltfrau, nicht jemandem vorstellen mögen wie seinem Vater, dem Bastard, dem Abschaum, dem Irren, der sich selbst das Hirn rausgeblasen hatte irgendwann, als gerade niemand daheim gewesen war. Daheim. Daheim, wo war das noch mal? Wie komme ich da hin?
Wo war Su?
Wo waren alle?
Josef überlegte hastig, und die Schmerzen in seinem Körper wurden mehr und mehr, wurden stärker, und Josef überlegte noch hastiger, denn er wollte nicht ohnmächtig werden, bevor er zu Ende überlegt hatte, wobei er nicht sicher wusste, wo oder was genau Ende in dem Sinne bedeuten mochte. Ende, Michael Ende, ein Buch, da hatte es ein Buch gegeben, die unendliche Gesichte, ja leck mich am Arsch, warum erinnere ich mich gerade jetzt daran? Die kindliche Kaiserin, das Pferd im Sumpf und Atreyu, der kleine Krieger. Wo bin ich? Die Gedanken wurden wirr, Josef war das bewusst und es machte ihn trübsinnig, es machte ihm Angst. Es war nun genug mit Rumliegen, er wollte aufstehen, sich umsehen, sich einen Kaffee holen, oh ja, Kaffee. Hatte er noch Geld? War seine Geldbörse da, wo sie sein sollte, in der hinteren rechten Tasche seiner Jeans? Er wollte so gerne, so gerne! nachschauen, doch er konnte sich nicht bewegen, und so lag er weiterhin wie ein Käfer am Rücken in der mittlerweile unerträglichen Sonne. Röstete in der Wüste des berühmten Morgens danach an einem ihm unbekannten Ort.
Er dachte an alles, das er lieb hatte, an seinen Kaktus in der Küche. An Su. An Walter. An die Lieder. An Weihnachten nicht, dafür aber an die gelbe Luftmatratze, die er zum siebten Geburtstag bekommen hatte von der Betreuerin im Heim, die er schon immer am liebsten gehabt hatte. Noch ein paar Jahre, dann würde er versuchen, sie wiederzufinden. Die Betreuerin, nicht die Luftmatratze. Und er würde sie zu seiner Hochzeit mit Su einladen und sie würde mit ihm am Buffet stehen, seinen Kragen richten, wie sie es immer getan hatte, damals, er klein gewesen war, und sagen: „Du hast dich gut gemacht, Josef, du hast dich wirklich gut gemacht!“ Er trieb jetzt fort, auf seiner gelben Luftmatratze. Es war schön, jung zu sein, unbeschwert zu sein, auszugehen und die Welt zu vergessen, aber nicht für immer, denn es war auch schön, in dieser Welt zu sein, sie anzuschauen und dabei zu entdecken, wie friedlich sie sein konnte, und wie in Ordnung. Seine Finger berührten jetzt das Wasser, hingen einige Zentimeter tief in den See, während der Körper beschützt und von der Sonne geleckt und gestreichelt wurde, sicher und in Ordnung auf der Luftmatratze treibend, an einem Sommertag, als er noch klein gewesen war und die Welt ein Dorf, das ihm nicht ausschließlich Angst machte. Aber Angst, was war schon Angst. Nichts konnte Josef etwas anhaben, solange er nur diese Liebe in sich trug, diese unbändige Liebe zu seinen Freunden, zu sich selbst, zu seinen Gebeinen, Gedärmen und Flüssigkeiten. Zu Su.
Oh. Er war wohl kurz ohnmächtig gewesen. Wie gut. Wie schlecht. Denn nun war er wieder da, war sich seiner Situation bewusst, wurde geröstet und konnte weder schauen noch stehen. Er lag. Einfach nur da. Am Ufer des Sees stand seine Betreuerin, winkte ihm zu, komm raus, es wird Abend, wir fahren nach Hause.
Nach Hause. Wo war das? Josef wollte eigentlich immer Joey heißen, seit er zwölf gewesen war, und manche nannten ihn tatsächlich so. Joey. Manche nannten ihn tatsächlich so und wussten nicht mal, dass er Josef hieß, im Prinzip. Prinzipien waren eine gute Sache, solange man ihnen nicht allzu treu blieb, solange man sie ab und zu mal auf die Waagschale legen und neu bewerten durfte. Eins der neuesten Prinzipien jetzt war zum Beispiel, dass heute kein guter Tag zum Sterben war. Denn: Sterben, wozu denn? Hier war es gut, das Drüben konnte warten. Noch einmal aufstehen und nach Hause gehen, noch einmal schlafen gehen, dicht angeschmiegt an den schlanken Rehrücken seiner Su, das war alles, an das Josef nun denken konnte. Er spürte ihr zierliches Ohr an seiner Wange, spitzte die Lippen so weit als möglich, um sie in die Ohrmuschel hinein zu küssen, ganz leise, um sie nicht zu wecken, ganz leicht, um sie nicht zu stören, er spürte ihre linke Hand in seiner linken Hand, und ineinander verschlossen lagen beide Hände auf der Hüfte der Frau, die er bald heiraten würde, kein Zweifel. Dann stieg er aus dem Wasser, die Betreuerin reichte ihm die Hand, wieder eine Hand mehr in seinem Leben, zog ihn ans Ufer, lachte, und die Luftmatratze, wo ist die? Ah, hier. Auslassen, zusammenrollen, im Bus verstauen, beim anderen Gepäck der anderen Kinder. Wenn du groß bist, sagt die Betreuerin, kannst du dir ein Haus am See bauen, ganz für dich allein, und dann kannst du immer, egal, wie früh oder spät es ist, zum Schwimmen gehen! Wäre das nicht fein?
Ja, fein. Fein. Eine feine Sache. Wo bin ich? Die Schmerzen wurden leichter, der Körper wurde leichter, die Haut legte sich zusammen, rollte sich zusammen, war bereit, verstaut zu werden in dem Bus, der Josef heimbringen würde. Die Glieder entspannten sich, die Augen kämpften nicht mehr länger damit, sich öffnen zu dürfen. Es war ja alles gut, und das Brennen am ganzen Körper wurde weniger, wurde kühler, ein Krampf, in der Mitte des Magens, genau dort, wo ein See war, mit einem selbstgebauten Haus am Ufer, ein Krampf noch, Hölle! ja Scheiße! tat das weh, ja, das tat weh, und nochmals, Hölle. Hölle. Josef sprang ins Wasser, seine Muskeln spannten und entspannten sich in den glitzernden Wellen, kühles gutes sauberes Nass umspülte und umspielte ihn, er war jetzt groß, er brauchte keine Luftmatratze mehr, und immer weiter schwamm er hinaus, vergiftetes Fleisch und fleischiges Gift der gesamten Erde hinter sich lassend, wissend, dass er gewonnen hatte. Denn die Schmerzen ließen mit jeder Kraulbewegung seiner wieder gestärkten Arme nach, und hier im See gab es auch keine Fliegen, die ihn kitzelten und ärgerten, und die Sonne war nicht mehr bedrohlich und tödlich, nein, sie war gerade richtig. Ein wunderbarer früher Sommerabend. Da drüben, zwischen den Trauerweiden, halb verdeckt vom Schilf noch, da erkannte er Su, ihr süßes Gesicht mit den beiden Oliven, die ihre Augen waren, und mit dieser großartigen Liebe in ihrer Miene, die er so gern hatte und die er gleich überall und rundherum küssen würde, um sie willkommen zu heißen, gleich, nachdem er diesen See hinter sich gelassen hatte. Er konnte so gut schwimmen. Das Gift lässt nach. Glieder spannen und entspannen sich. Keine Krämpfe mehr. Keine Kämpfe
„Tragisch“, sagt der Mann, der den leblosen Körper einpackt, nachdem er alle erforderlichen Eintragungen in seiner Mappe vorgenommen hat. Die Parkbank am Wiener Gürtel ist in einem Umkreis von hundert Metern abgeriegelt, die eine Polizistin und ihr Kollege sind noch da, aber die Presse hat sich zum Glück eh schon wieder geschlichen, und selbst der neugierigste Passant geht nun wieder seines Weges. Es ist schon fast mittags, Zeit zum Essen. Zeit, um sie mit der Familie zu verbringen. Gut, wenn die Leute weggehen, die Neugierdsnasen, die Geier, die blinden Passagiere.
Doch im Prinzip ist das alles gar nicht tragisch. Im Prinzip ist es in Ordnung.
Joey went home, an einem Sonntagvormittag im Sommer, auf einem öffentlichen Platz im Herzen von Wien, mitten in Österreich, hier in Europa, auf dieser Erde. Ein Stäubchen im Universum.
Josef ist endlich daheim.
© Althea Müller, 2013/2022
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